War Hans Scholl Mentor von Willi Graf?
Willi Graf stand öfters allein, ohne Unterstützung. Trotzdem machte er das, was recht war, er hat Güte und Treue geliebt, und er ging seinen Weg bis zum Tod in Ehrfurcht mit seinem Gott.
Following is my speech given on October 12, 2023 at the Internationale Fachtagung anlässlich des 80. Todestages von Willi Graf, held in Munich, co-sponsored by the Archdiocese of Munich-Freising and the Weisse-Rose-Institut. English translation of this speech can be read here.
Ich war – ehrlich gesagt – fassungslos, als Michael Kaufmann mich bat, zum Thema „War Hans Scholl Mentor von Willi Graf“ zu reden. Nach ein paar sprachlosen Minuten, fragte ich ihn, Wa-aas? Er erwiderte, dass diese These mittlerweile in Deutschland in Mode ist, und dass es auf etwas beruht, was Walter Jens anno 1984 geschrieben hatte. Noch a’mal: Wa-aas? Denn 1995 saß ich Stundenlang bei Inge Jens. Nachher korrespondierten wir ab und zu – wenn ich Fragen hatte, stand Inge Jens immer bereit, Antwort darauf zu geben. In all jener Zeit hat sie nie angedeutet, dass Hans Scholl Mentor von Willi Graf wurde. Ich hatte doch den Aufsatz von Walter Jens gelesen, als ich die Briefe und Tagebucheinträge von Willi in meine Datenbank eingegeben hatte. Es schien mir, so eine beiläufige Aussage zu sein.
Zu hören, dass aus dieser beiläufigen Aussage ein „Cottage Industry“ geworden ist? Dass Möchtegernwissenschaftler jenen Satz als so wahr nehmen wie das Amen in der Kirche? Ich staunte.
Der Satz von Walter Jens heißt, etwas gekürzt, „Je älter Willi Graf wurde, desto couragierter, in deutlicher Absage an die sich mit ‚innerer Emigration‘ begnügenden Bundes-Führer und Bundes-Gefährten von der Münchner ‚Siegfriedstrasse,‘ ging er seinen Weg – gemeinsam mit Hans Scholl, ihm vor allen anderen. Hans Scholl, der sein Mentor wurde, sein Partner auf literarischem und theologischem Feld (Guardini, Haecker, und Muth, auch Kurt Huber: man hatte dieselben Erzieher), sein Weggefährte auf der Bahn von der Reflexion zu entschiedenem Handeln und, dies vor allem, sein bewunderter Altersgenosse.“
In dem einen Satz sind so viele Fehler. Willi Graf notierte öfters, dass er Guardini gelesen hat. Hans Scholl hat Guardini nicht gelesen. Hans Scholl las Haecker und Muth, Willi Graf nicht. Kurt Huber, obwohl katholisch, konnte Religion nicht leiden. Er behauptete, er sei in frommen Kreisen nicht willkommen. In der vorletzten Woche vor den Verhaftungen, hat Huber mit Hans Scholl über Religion gestritten. Als Grundlage für seine Zustimmung zur Zusammenarbeit mit Hans Scholl musste Hans versprechen, dass kein Klerus beteiligt sei, und dass die „Weiße Rose“ keine religiöse Organisation sei.
Es ist nicht so, dass Walter Jens diesen Fehler bewusst begangen hat, noch wurde der Fehler in böser Absicht gemacht. Es ist halt so, dass im Jahre 1984 relativ wenige Primärquellen zur Verfügung standen. Die Protokolle vor allem – auch wenn wir vorsichtig mit diesen Dokumenten umgehen müssen, bringen uns trotzdem besseren Einblick in den Persönlichkeiten und Gedanken des Freundeskreises.
Wieso sollten Sie mir glauben, warum sollen Sie meine Aussagen als wahr bezeichnen, gegen dem Satz vom besser bekannten Herrn Prof. Dr. Walter Jens?
Bei mir fing’s 1967 in der 7. Klasse bei einer guten Deutschlehrerin an. Sie erzählte uns von ihrer Jugend als Tochter eines Widerständlers, wie sie ihren Vater hasste, weil sie nicht bei Bund deutscher Mädel teilnehmen durfte, wie sie immer auf alles aufpassen musste, weil sehr oft die geheimen Treffen bei ihnen zu Hause stattfanden. Erst als Erwachsener verstand sie, was ihr Vater gemacht hatte. Sie hiess Marie-Luise Pieratt. Ihr Vater war Wolfgang von Gronau.
Auf der Uni studierte ich Mathematik und Germanistik, mit Pädagogik als Nebenfach. Meine Abschlussarbeit konzentrierte sich auf die Verwendung von politischem Humor als Widerstand, insbesondere auf die Werke von Ludwig Thoma, Frank Wedekind, und Simplizissimus.
Als Fulbright Stipendiatin habe ich das gleiche Thema an der Uni Augsburg bei Herrn Prof. Dr. Albrecht Weber studiert. Er betonte, wie wichtig es sei, Geschichte korrekt und möglichst objektiv zu unterrichten. Dr. Weber war offen, gutherzig und aufschlussreich. Außerdem verstand er meinen bizarren Sinn für Humor.
Obwohl ich nicht katholisch bin, waren die guten Menschen der KHG Augsburg meine engsten Freunde. Als meine Schwester Selbstmord beging und ich nicht nach Hause fliegen konnte, waren es diese Freunde und Dr. Weber, die mir halfen, meine Trauer zu verarbeiten. Oder zumindest diesen langen Prozess zu beginnen. Ich war auch bei ihnen im Karmeliterkloster in Dachau. Wir saßen mit der Mutter Priorin zusammen und sprachen ausführlich über die Shoah und über ihre Arbeit, die Erinnerungen der Überlebenden zu bewahren. Das war eine unglaubliche Frau!
1994 begann ich mit der Erforschung der Weißen Rose. 1995 verbrachte ich dreieinhalb Monate in Deutschland und interviewte Familienmitglieder und andere Wissenschaftler. Ich habe in Archiven gearbeitet, tausend Fragen gestellt und 2000 Antworten bekommen. Inge Jens hat mir viele unveröffentlichte Essays geschenkt, ebenso hat Anneliese Knoop-Graf mir Dokumente reichlich beschert. Die Geyers öffneten ihren Schrank mit Wilhelm Geyers Nachlässen und ließen mich die veröffentlichten Originalbriefe lesen. Bei Spargel und Weißwein unterhielten wir uns tagelang mit Erich und Hertha Schmorell. Fritz und Elisabeth Hartnagel schenkten uns einen ganzen Nachmittag und beantworteten unsere Fragen. Später gab mir Elisabeth Hartnagel alle Dokumente, die Inge gesammelt hatte, damit mindestens eine Person eine Kopie von allem hatte, was Inge unterdrückt hatte, für den Fall, dass Inge die Dokumente vor ihrem Tod vernichtete.
Für mich sind die Familien Menschen, mit denen ich lachen, weinen, reden konnte. Obwohl wir doch über ernsten Sachen sprachen, haben sie mir auch die „unwichtigen“ Geschichten erzählt: Alexander und Limburger-Käse. Willi im Baum, Kirschen essen. Lilo mit dem Buch, das Sophie Alex schenkte, das Alex dann sofort weiter an Lilo lieferte, „Ich will es nicht!“ September 2007 besuchte ich Herta Probst zum letzten Mal. Ich sagte ihr, ich würde bald in Orenburg über Alexander Schmorell reden. „Sag‘ denen: wo Schurik war, gab’s immer Gelächter! Niemand konnte lachen wie Schurik!“
Als ich wieder in den USA sass, hab’ ich zuerst ungefähr 2 Millionen Worte übersetzt. Dann habe ich eine Datenbank erstellt und alle Primärquellen – Protokolle, Tagebucheinträge, Briefe, mündliche Überlieferungen, Reden und Interviews – in die Datenbank eingegeben. Wenn Sie mehr über mein Ziel, meinen Prozess und meine Methodik erfahren möchten, geben Sie mir bitte anschließend Ihre Kontaktinformationen an und ich werde Ihnen diese Informationen zusenden. Bevor ich ein einziges Wort geschrieben habe, habe ich die Daten nach der von mir im Vorfeld erarbeiteten Methodik in die Datenbank eingegeben.
Deshalb will ich klar und deutlich sagen: Hans Scholl war nicht der Mentor von Willi Graf. Die zwei Freunde haben über Religion diskutiert. Aber in seinem Verhör am 19. Februar 1943, machte Willi Graf unmissverständlich, dass Hans Scholl evangelisch sei. Hans zeigte großes Interesse am katholischen Glauben, sagte Willi Graf. Das haben sie diskutiert. Hans stellte Fragen an Willi Graf, nicht umgekehrt. Mir kommt es so vor, als ob Willi Graf vielleicht der Mentor von Hans Scholl war.
Da diese Rede die Verbindung zwischen Hans Scholl und Willi Graf in Glaubensfragen thematisieren soll, möchte ich kurz auf Hans Scholl eingehen.
Familie Scholl war in religiösen Themen gespalten. Auf der einen Seite stand Magdalena Scholl, Diakonissin und pietistisch bis zum geht-nicht-mehr. Auf der anderen Seite, Robert Scholl, Agnostiker, der es anscheinend liebte, die Rolle von des Teufels Advokat zu spielen. Robert Scholl konnte sarkastisch und frech sein, im Namen der größeren Wahrheit. So meinte er zumindest.
Die Scholl-Kinder befanden sich in der klaffenden Lücke zwischen Frömmigkeit und Unaufrichtigkeit. Denn zur gleichen Zeit, als Robert Scholl Hitler als Geißel Gottes ausschimpfte, war er williger Knecht der Partei. Wie kann man’s sonst erklären, dass er die Top-Nazis in der Stadt zu seinen renommierten Kunden zählte? Unter denen, das Finanzamt? Oder dass er seine Freundschaften mit Top-Nazis wie Friedrich Mussgay und Ferdinand Dietrich gut pflegte?
Der erste war Kriminalrat, SS-Obersturmbannführer und Gestapo-Chef in Stuttgart. Ja, der Friedrich Mussgay, der die Schwester von Jenny Grimminger zum Tode in Riga verurteilte, durch seinen Ausweisungsbefehl für die gesamten jüdischen Bürger Stuttgarts.
Der zweite, Ferdinand Dietrich, war Öhringer Kreisleiter, Arzt, alter Kämpfer für die Partei, der allein für die Tode hunderter von Geisteskranken und Juden im Kreis verantwortlich war. Seine Hetzbriefe waren damals berühmt.
Mit diesen Männern, sowie mit anderen hochrangigen Politikern der NSDAP, war Robert Scholl gut befreundet. Laut seiner Tochter Inge Scholl und seinem Enkel Thomas Hartnagel waren Mussgay und Dietrich oft bei Scholls zuhause. Sogar nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl war Ferdinand Dietrich bei Scholls in der großen Wohnung am Münsterplatz, um ihnen Hilfe anzubieten und ihnen zu sagen, dass diesmal „der Mussgay“ ihnen nicht beistehen konnte.
So ist Hans Scholl aufgewachsen. Er wollte beiden Eltern gefallen. Er ging ab und zu in die Kirche, zu Ostern, seiner Mutter zuliebe. Und er warf sich vollkommen - aber doch a bisserl höhnisch - in den Hitler-Club, um seinen Vater eine große Freude zu machen. Hans Scholl lernte schnell, fromme Worte an seine Mutter zu schreiben, und gleichzeitig scheinheilig mit seinem Vater zu reden.
Diese gespaltene Zunge hat Hans Scholl beim Militär und an der Universität gut gedient. Chamäleonartig konnte er immer wieder seine Meinung mit einem Gespräch in Einklang bringen. Diese Eigenschaft diente nicht nur seiner Politik bzw. Religion, sondern auch seinen Zielen und Gedanken. Öfters, als ich die Schollschen Briefe und Tagebüchereinträge las, wollte ich mir die Haare ausreißen, weil seine Worte so schmeichlerisch sein konnten.
Wie mit seinem Vater, wie sollte man es ansonsten erklären, dass Hans Scholl zu seinen sogenannten Freundinnen Traute Lafrenz rechnete, aber auch Ulla Claudias und Gisela Schertling? Ulla und Gisela? Ulla, dessen Vater Hermann Oktober 1933 einer der 88 deutschen Schriftsteller war, die das Gelöbnis treuster Gefolgschaft für Adolf Hitler unterzeichneten? Auf der einen Seite hat Hans Scholl Haecker-Vorträge organisiert. Auf der anderen ist er begeistert mit Ulla in eine Vorlesung ihres Vaters mitgegangen. Es ist davon auszugehen, dass sowohl Theodor Haecker als auch Hermann Claudias meinten, Hans Scholl sei mit ihrer Politik und Weltanschauung einverstanden.
Wie soll man denn diesen Hans Scholl verstehen? Wenn ich diese Frage stelle, möchte ich seine Größe und sein Wirken keineswegs herabwürdigen. Hans Scholl hat sein Leben für eine Sache, für eine Idee geopfert, die grösser war als er selbst. Schluss-aus-fertig. Weder ich noch Andere kann oder soll das von ihm wegnehmen. Wir halten sein Andenken in Ehren. So ist es richtig.
Wenn man die Glaubensvorstellungen des Hans Scholl verstehen will, muss man zuerst seine verzweifelte Pflichttreue eingestehen. Vielleicht hat er den Apostel Paulus missverstanden, als der schrieb, „Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. … Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette.“
War Hans Scholl bei seinem Vater, war er wie ein Zyniker. War er bei seiner Mutter, hieß es, Ewigkeit, Gott, Heil, Liebe, Gott, Treue, Heimat, Gott, immer wieder Gott. Hat er einen Brief an Inge geschrieben, war die Rede von Schilaufen und Bücher kaufen.
Nach Tagen bei Carl Muth, schrieb Hans Scholl heilige Gott-Briefe, worin er die Armut hochlobte, nachdem er Muths Aufsatz über die Armut für Windlicht anscheinend plagiiert. Das heißt, Hans Scholl kopierte wesentliche Arbeiten und Ideen von Carl Muth ohne Quellenangabe. Kurz nachdem er sich zum wahren Christen erklärt hatte.
Wenn aber die Gestapo seine Freunde nach der Religionszugehörigkeit des Hans Scholl fragte, sagten sie alle, er sei evangelisch. Wilhelm Geyer bemerkte, dass Hans und Sophie Scholl – die beiden! – evangelisch waren und dachten, aber dass ihre Schwester Inge dennoch erwäge, zur katholischen Kirche zu konvertieren. Otl Aicher berichtete, dass wenn er und Sophie sich über den Glauben auseinandergesetzt haben, dann hat Sophie immer die Seite der evangelischen Kirche vertreten. Und dass Sophie immer siegte, vor allem, wenn sie über Themen wie das Fegefeuer redeten. Sophie fand jenen Begriff äußerst unglaubwürdig.
Traute sagte mir, dass sie sich darüber ärgerte, dass Hans Scholl den Bibelvers im vierten Flugblatt falsch zitierte. Sie hatte es ihm gezeigt. „Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten.“ Im Flugblatt stand Sprüche. Traute sagte, Nein! Es sei Prediger! Kapitel 4, Vers 2. Manchmal frage ich mich, ob Hans Scholl überhaupt eine Bibel besaß. Es scheint mir, dass das Christentum etwas sei, das Hans Scholl anzog, wie Dienstkleidung oder einen Wintermantel. Je schöner, je nach den Umständen.
Jenseits des Universums steht Willi Graf.
Willi hatte das starke Fundament, die tiefen Freundschaften, und vor allem die grauenhaften Kriegserfahrungen, die seinen Weg zu Gott und seinen Widerstandswillen vorangetrieben haben.
Als ich dann zum ersten Mal Willi Graf las, kannte ich sofort seine Art des katholischen Denkens. Nicht nur Willi Graf, sondern auch Wilhelm Geyer, Katharina Schüddekopf, Otl Aicher, Josef Furtmeier, Alfred von Martin, Carl Muth, und Theodor Haecker – nur Harald Dohrn stand außerhalb des fragestellenden katholischen Kreises der Freunde, die wir die Weisse-Rose nennen. Geyer sagte von Dohrn, er sei päpstlicher als der Papst. Aber sogar Dohrn fand sein Zuhause unter Menschen, die oft Wieso und Warum fragten.
Ich könnte gerne den ganzen Tag über diese katholische Subgruppe der Weissen-Rose reden, diese Subgruppe die Willi Graf mochte und die Leute mit denen er oft zusammen war. Ich finde den außergewöhnlichen Mut von Wilhelm Geyer ehrwürdig. Obwohl er seine Frau Clara, seine Mutter (auch Clara), und seine sechs Kinder von ganzen Herzen liebte, konnte er nicht schweigen. Schon früh, 1933 oder so, störte er eine politische Kundgebung – er allein. Als Streicher ihn als der gefährlichste Künstler Deutschlands verspottete, akzeptierte Geyer die Beleidigung als hohes Lob. In den Protokollen, als Gestapo und Richter ihn als fanatischen Katholiken ansprachen, erwiderte er, ‚Fanatischer Katholik? Keineswegs. Ich bin ein guter Katholik, und gute Katholiken sind nie fanatisch.‘
Katharina Schüddekopf stand zwischen zwei Eltern, die sie liebte. Ihr Vater war überzeugter Nazi, die Mutter eine tiefgläubige Katholikin. Lange Zeit versuchte die Käthe, beides zu sein. Letztendlich verstand sie, dass eine tiefgläubige Katholikin nie Nazi sein konnte.
Otl Aicher, der nach dem Krieg Inge Scholl heiratete, berichtete von einem Gespräch mit Sophie Scholl. Sophie dachte über Selbstmord nach. Zuhause bei der Familie, ihre Beziehung zu Fritz Hartnagel, das ewige Alleinsein, dem sie nie entkommen würde… und dazu konnte sie nicht einmal beten. Gott, der Gott des Heiligen Augustinus, war zu distanziert, zu kalt, zu gleichgültig. Dazu fand Sophie Scholl, dass sie nicht würdig war, geliebt zu sein. Nicht von einem Mann, nicht von der Familie, nicht von sich selbst, und vor allem, nicht von Gott.
Otl sagte ihr Folgendes:
Kennst Du den kleinen Gott? Den Gott, der nicht die Geschichte lenkt, der nicht zu Gericht sitzt, der nicht seinen Fuß auf seine Feinde setzt? Es gibt ihn, er kümmert sich nicht um die Könige und Mächtigen der Erde, nicht um Kaiser und Päpste, nicht um die Siege der Nationen, sondern um Arme, Hungrige, Verlassene, Einsame und Leidende, all die Kleinen, die von der Geschichtsschreibung auf den Kompost geworfen werden. Der ganze Erdball kann nicht in einer größeren Not sein als eine Seele. Und dieser Gott ist bei der leidenden Seele am Abgrund des Nichts. …
Der große Gott, der Gott der Trompeten und Heerscharen, der Gott der Völker und Kollektive kam in Galiläa nicht vor. Der Gott Jesu war ein Gott, mit dem man spricht. So sagte Otl der Sophie, als sie Selbstmord nachdachte.
Wilhelm Geyer, Käthe Schüddekopf, Otl Aicher – diese sowie ihre Glaubensgenossen im Freundeskreis, fragten und stellten alles in Frage. Für sie, in jenen dunklen Tagen, gab’s den Luxus nicht, etwas für bare Münze zu akzeptieren. Mit diesen Menschen konnte Willi Graf gut reden – Wilhelm Geyer und Käthe Schüddekopf insbesondere, sowie Traute Lafrenz, die stets Fragen stellte.
Aber – und hier kommt das große Aber: Aber im Allgemeinen war Religion für diesen Freundeskreis nicht besonders wichtig. Der Glaube schon. Religion nicht so sehr. Wie Traute Lafrenz mir sagte, sie waren alle gläubig, aber keineswegs fromm.
Aus der ganzen Mannschaft gingen nur Willi Graf, Käthe Schüddekopf, und Wilhelm Geyer regelmäßig in die Kirche. Es gibt keine Berichte, die andeuten würden, dass Hans und Sophie Scholl, Traute Lafrenz, Eugen Grimminger, Manfred Eickemeyer oder Kurt Huber je in die Kirche gingen, ob evangelisch, katholisch, buddhistisch, oder agnostisch, außer ein paar Mal zu Ostern. Und dies sind diejenigen, die mindestens schriftliche Dokumente zu Glaubensfragen hinterließen.
Die Unterschiede zwischen Willi Graf und Hans Scholl könnten nicht klarer sein. Die Vergleiche sind stark.
1933 ist Hans Scholl der Hitler-Jugend beigetreten. 1933 hat Willi Graf die Worte von Johannes Maassen gelesen: Wir wollen eine nationale Würde, die meilenweit abrückt von dem Ton der Maßlosigkeit und der Gosse, der jetzt in Deutschland gegen alles, was nicht regierungsfromm ist, also täglicher Umgangston gebräuchlich zu werden, beginnt. Wir wollen die volle Existenz des Rechts, das die Grundlage der Staaten ist. Wie wollen eine Gasse für die Freiheit des Volkes. Willi Graf und seine Freunde haben sich entschlossen, sich als Neudeutschland zu organisieren.
Diesen Verein haben sie gewählt, eben weil die Struktur von Neudeutschland es ihnen erlaubte, Spaß zu haben und Bibel zu lesen. Die anderen wären entweder zu fromm oder nicht fromm genug gewesen. Die Jungen haben doch Hitler-Jugend überlegt, haben es aber abgelehnt. Walter Gombert hat als Jahresspruch für die Jungs den Bibelvers aus dem Jakobusbrief gewählt, Werdet aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst! – gekürzt als Treu sein und Gefolgschaft leisten.
Ende 1933 als Willi Graf und seine Freunde über die Folgen des Konkordats nachdachten, haben sie sich fest entschlossen, nie Mitglieder der Hitler-Jugend zu werden. Wie bekannt hat Willi Graf angefangen, ehemalige Freunde aus seinem Adressbuch zu streichen, als er erfuhr, dass sie sich Hitler-Jugend angeschlossen hatten. Ende 1933 als Hans Scholl lernte, dass katholische Jugendliche sich weigerten, sich der Hitler-Jugend anzuschließen, haben er und seine Hitler-Jugend-Truppe ihnen aufgelauert und sie verprügelt.
Als 1934 Willi Graf und seine Freunde ihre große Deutschlandreise machten, waren sie in Kluft und Ritterabzeichen des Neudeutschlands gekleidet. Als 1936 Hans Scholl und seine Truppe nach Schweden reisten, trugen sie auf der Reise ihre Hitler-Jugend Uniformen.
1935 war Hans Scholl Fahnenträger beim Reichsparteitag. 1935 marschierte Willi Graf zusammen mit elf seiner Kameraden hinter der „mit Goldquasten und Troddeln geschmückten Fahne“ des Gymnasiums zur jährlichen Großkundgebung auf dem Befreiungsfeld – unter tausenden von Hitler-Jugend Leuten.
Und laut Anneliese Knoop-Graf hat ihr Bruder andere Studenten auf der Uni in Bonn ausgesucht, die nicht nur gute Literatur oder die Bibel lasen, sondern die auch Widerstand besprachen. Widerstand, nicht innere Emigration oder Resistenz, sondern Widerstand. Kurz danach, als Hans Scholl an der Universität in München immatrikulierte, suchte er sich eine nette Studentenbude aus, kaufte viele Bücher, und bat seinen Vater, ihm mehr Geld zu schicken.
Ich höre Sie schon: Aber all das sei vor dem Jahre 1941, als Hans Scholl wahrer Christ wurde! Reden Sie von jenen Zeiten!
Also gut.
Otl Aicher beschrieb Gespräche zwischen Hans Scholl und Carl Muth als „Argumentation und Reflexion, nicht eruptive Emotion.“ Otl sagte, die weltmännische Art von Carl Muth hat Hans Scholl gut gefallen. „Auch wenn Muth in seiner Opposition deutlich und hochfahrend wurde, behielt er immer die Selbstkontrolle liberaler Manieren [und] universeller Verbindlichkeit.“ Laut Otl Aicher, „Dem entsprach der rationale Humanismus von Hans.“
Obwohl Willi Graf sich für Glaubenssachen interessierte, hat er Muths "Hochland" selten – wenn überhaupt – gelesen. Wir sehen nur zweimal, dass er Hochland erwähnt, nämlich in zwei Briefen an Marita Herfeldt. Am 2. Februar 1943 schreibt er, „Das Hochland-Heft habe ich bisher noch nicht auftreiben können.“ Zwei Wochen später im letzten Brief vor seiner Verhaftung bedankt er sich bei Marita. „Die ‚Brücke‘ und das Hochlandheft trafen bei mir ein, vielen Dank dafür.“ Falls ich noch eine Erwähnung des Hochlands verpasst habe, sagen Sie es mir bitte.
Willi Graf hätte den rationalen Humanismus und liberale Manieren von Carl Muth und Hans Scholl nicht besonders bedeutend gefunden. Er wollte was Echtes, was Haltbares. Und – es muss gesagt werden – Willi Graf kannte Carl Muth nicht, obwohl er wusste, dass Hans Scholl Carl Muth sehr respektierte.
Hans Scholl konnte einen einfachen Bibelvers nicht richtig zitieren. Willi Graf sagte, sein liebstes Weihnachtsgeschenk im Jahre 1936 war eine ganze Kopie der Bibel mit allem drin. Hans Scholl diskutierte biblische Sachen, er las Bücher über die Bibel, nicht die Bibel selbst. Dieses sieht man besonders klar als Carl Muth den Geschwistern Scholl ein Buch über das Turiner Grabtuch zeigte. Sophie Scholl wollte das Gesicht Gottes in jenem Grabtuch sehen. Hans Scholl wollte mehr darüber wissen, also hat er jenes Buch gelesen.
Für Hans Scholl war die Heilige Schrift, das heißt, die Lutherbibel, nur große Literatur. Ich sehe nie und nirgends, wo Hans Scholl schreibt, dass er die Bibel mit Freunden oder für sich selbst las. Dagegen steht Willi Graf. Für ihn war das Bibellesen etwas Wichtiges, wenn nicht etwas Heiliges. Er las sie allein in seiner Studentenbude, er las sie zusammen mit Fritz Leist und Emil Martin, er sagte Anneliese, sie soll die Bibel lesen und dass sogar Goethe ein Bibelleser war.
Willi Graf war auch gegen Ende seines Lebens nicht mit dem passiven Widerstand der Weissen-Rose zufrieden. Er wollte unbedingt aktiven Widerstand machen (praktizieren). Er wollte bei dem Widerstand um Pater Delp teilnehmen und deswegen war er die letzte Woche seiner Freiheit nach Lenggries gefahren. Er wollte durch Johannes Maassen Kontakt mit Pater Delp aufnehmen. Als er sich nicht mit Maassen treffen konnte, besuchte er – zusammen mit Wolf Jaeger – Professor Huber. Willi Graf fragte ihn, welches Gebäude in Berlin er bombardieren solle, um die größte Wirkung zu erzielen.
Im Gegensatz war Hans Scholl nie fähig, aktiven Widerstand zu leisten. Ich glaube, dass das der Grund war, dass im letzten Monat der Weissen-Rose Arbeit, Willi Graf eine nähere Freundschaft mit Alexander Schmorell und Traute Lafrenz führte, sowie mit WERNER Scholl als sie in Russland waren.
War Willi Graf ohne Sünde? Keineswegs! Würde er hier vor uns stehen, würde er uns seine Mängel und Misserfolge aufzählen, die Art und Weise, wie er seine Freunde – und sich selbst - im Stich ließ.
Willi Graf war genauso wie wir – wie ich, wie Jennifer, wie Michael, wie Du und Du und Sie und Sie. Wie mein Vater von sich selbst sagen würde, er hatte Füße aus Lehm, den ihm bis zur Hüfte reichten.
Aber Willi Graf wusste, was richtig war. Was gerecht war. Unrecht tat ihm weh. Ungerechtigkeit machte ihn wütend und bereitete ihm Albträume.
In Micha 6,8 heißt es: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.“
Wir sollten Wilhelm Josef Graf heute für seine Entschlossenheit ehren, nach seinem Glauben zu leben und für das zu sterben, was gerecht war. Vor allem, da er öfters allein stand, ohne Unterstützung von Familie, von Kirche, von alten Freunden. Trotzdem machte er das, was recht war, er hat Güte und Treue geliebt, und er ging seinen Weg bis zum Tod in Ehrfurcht mit seinem Gott.
V’imru Amein. And let the people say, Amen.
Many, many thanks to the following, without whom this speech would have been a shadow of itself. Thanks to Kathleen Eaves, Gwen Miertschin, Clare Colquitt, and Harriet Dishman for brainstorming best approach to a difficult topic. When I accepted this responsibility, my thoughts went flying 100 mph. You helped more than you know!
Thanks to Dr. Harold Marcuse of UC-Santa Barbara for taking my third or so draft and “restructuring” it. You didn’t change my message, only its impact. Wow.
Thanks to
for going with me to the conference, standing with me in what was not necessarily a friendly environment. And to Jon Lee Keenan, who joined us as “Willi Graf” singing Jennifer’s composition based on Willi’s final letter. The archdiocese does not fully appreciate your gift.Thanks as well to Barbara Distel, retired long-time director of Dachau Memorial Museum, for preparing Jennifer and me for the environment we would face on October 12. You were right.
Thanks too to Manfred Forster, who read the final draft and corrected German grammar missed by other proofreaders.
In this speech, I said what I meant and meant what I said. It may not be a popular opinion in Germany - why else did they ask an American to deliver it? - but it’s critical to understanding White Rose resistance.
© 2023, 2024 Denise Elaine Heap. Please contact us for permission to quote.
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